Eskapismus: Flucht in die Hölle
Der sonst von mir wenig geschätzte, linksforcierte, aber nicht blöde Pastoraltheologe Paul Zulehner sagte dereinst sinngemäß treffend: „Heute dauert ein Leben 70 – 90 Jahre, früher 50 – 70 Jahre und die Ewigkeit.“ Der Skandal des Todes bleibt also den Zeitgeistigen die einzige Wirklichkeit, und die ist grausam.
Keine Fangzähne, keine Krallen, keine schweren Tatzen und kein Muskelpaket – der Mensch ist ein Fluchttier und er flüchtet vor der größten Bedrohung, die er sich vorstellen kann: Der Welt des hier und jetzt, denn danach gibt es für ihn NICHTS! Aus! Schluss! Vorbei! Ein Haufen Asche oder Konfekt für das Gewürm des Totenackers. Flucht vor der Wirklichkeit, wie kann das gelingen? Umdeutung, Interpolation und Verweigerung Reales zu sehen und hinzunehmen, Maßstäbe der Lebensordnung einer überkommenen gottgläubigen Welt auszuradieren, das ist die Devise! Erstaunlich wie es gelingt und wie gerade die westliche Gesellschaft in eine glückliche Traumwelt eintaucht, in der alle ehemaligen Sicherheiten zur Disposition stehen und sicher nur ist, was sich die Solipsisten selbst imaginieren.
Zuerst einmal war es notwendig den sichtbarsten Widerschein der göttlichen Schöpfungsordnung in der Welt auszumerzen und also den König und mit ihm die hierarchische Herrschaft wegzuräumen. Hand in Hand geht dies mit der ersten Illusion – weil nur sein kann, was sein soll – der Gleichheit aller Menschen, mit der Deklaration der Menschenrechte von der Französischen Revolution in verbindliche Form gegossen. Was dem in der Beobachtung der Welt entgegensteht, wird als Konstruktion umgedeutet. Keine Rassen darf es geben, keine Privilegierten, nichts, das hervorsticht aus einer gleichförmigen Masse.
Zur Unterstützung dieser Kapriolen menschlichen Denkens, war es notwendig aristotelisch klares Denken auf den Universitäten zu überwinden. Daß jene Tempel der Gelehrsamkeit aus den Domschulen des hohen Mittelalters entstanden und von den alten Jesuiten zur Blüte geführt wurden, war bald vergessen. „Unter den Talaren Mief von tausend Jahren!“ war der Schlachtruf und sehr bald waren da weder Mief noch Talaren und sportbeschuhte Althippies predigen losgelöst und vergangenheitsbefreit die frohe Botschaft vom neuen Menschen. Dort wo die Eliten einer Gesellschaft herangebildet werden, galt es anzusetzen und der Erfolg war überzeugend; so überzeugend, daß sich bald selbst weite Teile der katholischen Kirche diesem Mummenschanz der Entgrenzung und Freiheitsillusion anschlossen und mit dem zweiten Vatikanischen Konzil die so fest gefügt geglaubte katholische Lehre, der neuen Kundschaft angepasst, in die Beliebigkeit führten.
Ein fester Bestandteil dieser ehemals außer Diskussion stehenden Ordnung war die Familie auf der Grundlage der Unauflöslichkeit der sakramentalen Ehe, bestehend aus Mann und Frau. Den einen ein Ärgernis, den anderen eine Torheit, ersetzte sie der Zeitgeist bald durch eine mehr oder weniger verrechtlichte Beischlafoption ganz gleich für wen unter Gleichen. Männer mit Frauen, Frauen mit Frauen, Männer mit Männern, ja selbst wie Cohn–Bendit im 68iger Taumel empfahl, Erwachsene mit Kindern – alles war auf einmal möglich! Welch nie da gewesene Freiheit! Gerade der Tierschutz vermag es noch Hunde und Schafe vor dem Missbrauch zu schützen.
Wer mit wem ist also gleich – wer aber ist jetzt wer? Nackend vor dem Spiegel sollte es doch jedem klar sein, welchen Geschlechtes er nun ist. Denn sehr handfest könnte – er – sie – es – sich überzeugen. Aber weit gefehlt! Auch dies, was man da meint zu sehen, ist bloße Konstruktion, und was man greift, ist physischer Altbestand, lästiges Zeugnis von Ungleichheit einer reaktionären Biologie. „Mädchen dürfen raufen, Buben dürfen weinen“, hieß schon in den 70iger Jahren ein weitverbreitetes Kinderbuch. Sexualaufklärung im Vorschulalter, mediale Aufbereitung im Film und Funk und das Ende jener Kleiderordnung taten ein Übriges, diese Erkenntnis der Befreiung von der Wirklichkeit in die Gehirne einzupflanzen.
Spannend bleibt es allemal, denn noch können wir nicht erahnen, zu welch lichten Höhen uns dieses neue Denken führen wird. So wies die amerikanische Feministin Carol J. Adams in ihrem als „Bibel der veganen Gemeinschaft“ gepriesenen Buch „The Sexual Politics of Meat“ zweifelfrei nach, daß Fleisch essen zu Nationalismus, Rassismus und patriarchaler Unterdrückung der Frau führt.
So nähern wir uns endlich des Pudels Kern! Nicht ist es so, daß, wenn nur noch das hier und jetzt gilt, alles Religiöse tot ist. Denn der Mensch braucht Religion, wie die Luft zum Atmen. Jede Religion hat Speisegesetze. Haben Menschen keine Religion mehr, machen sie aus Speisegesetzen eine Religion. So baut sich vor uns ein neuer Kult auf, der uns in perfekter Verbindung von Thron und Altar auf unser letztes Ziel hinführt: Die Hölle.