„Die jetzige EU ist eine intellektuelle Fehlkonstruktion“

Roger Köppel – der bekannteste Journalist der Schweiz – reiste kürzlich  nach Chemnitz und erlebte die dortigen Proteste hautnah mit. „Mich machte die Berichterstattung nach dem Tötungsdelikt misstrauisch. Deshalb bin ich hingegangen“, erzählt er.

Im Gespräch mit Frank&Frei spricht er über die Empörung der Menschen, kritisiert die Berichterstattung und analysiert die Ursachen der politischen Spannungen in Deutschland und in Europa. Auch auf die Situation in der Schweiz geht er ein und erläutert, warum man dort zwar mit ähnlichen Problemen zu tun hat, aber andererseits nicht in dergleichen Schärfe.

Frank&Frei: Sie waren zur Zeit der Demonstrationen in Chemnitz. Manche haben Hetzjagden, andere haben Nazis gesehen. Was haben Sie dort gesehen?

Roger Köppel: Hetzjagden hat, glaube ich, niemand gesehen, auch wenn das behauptet wurde. Das Video, auf das man sich gestützt hat, zeigt nur, wie jemand verscheucht wird. Eine Hetzjagd ist etwas anderes. Ein Mitgründer des Bündnis 90/Die Grünen in Chemnitz und der sächsische Staatsanwalt haben mir dasselbe gesagt wie der Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen: Es gebe keine Beweise für Hetzjagden. Ich habe vor allem viele unzufriedene Bürger gesehen, großteils Sachsen. Viele erzählten mir, sie wären das letzte Mal vor 29 Jahren auf der Straße gewesen, um gegen die DDR zu demonstrieren. Sie fänden es fürchterlich, dass sie sich heute nicht nur von oben unverstanden fühlen, sondern dass sie sogar attackiert werden.

Und Neonazis?

Ich habe auch ein paar Neonazis gesehen und die Demonstranten darauf angesprochen. Die seien eine ganz kleine Minderheit, wurde mir gesagt. Der Großteil der Menschen hier sei ganz einfach mit der Migrations- und Europolitik und generell mit der Art, wie sie von der Politik behandelt werden, nicht einverstanden. Auch wenn ihnen diese Nazis nicht gefallen, wollten sie deswegen nicht gleich die Demonstration absagen. Und jene Personen mit Hitlergruß seien eingeschleust worden. Eine Hausfrau aus Chemnitz sagte mir, sie habe diese Leute hier noch nie gesehen. Einige Polizisten haben mir verstörende Dinge erzählt: Man habe die Demonstration nach dem Tötungsdelikt wegen Straßenblockaden abbrechen müssen, obwohl es kein Problem gewesen sei, diese Straßenblockaden aufzuheben. Aber man sei halt in Berlin nicht für die Versammlungsfreiheit. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber so hat man es mir gesagt.

Sie haben in Deutschland wegen Ihrer Gespräche mit den Menschen auch Kritik geerntet.

Das ist ja verrückt: Journalistische Wortführer werfen mir vor, dass ich das Geschehen mit eigenen Augen verfolge. Welches journalistische Ideal wird hier eigentlich hochgehalten? Soll man etwa alles aus dem Internet abschreiben? Mich machte die Berichterstattung nach dem Tötungsdelikt misstrauisch. Deshalb bin ich hingegangen. Ehrlich gesagt hat mich die fundierte Aufgewühltheit der Leute sehr beeindruckt, und auch die Breite des Spektrums. Selbst Grüne und Ex-Grüne, die nicht mitdemonstriert haben, sagten mir: ‚Wir fühlen uns verleumdet durch unsere Bundeskanzlerin und durch das politische Establishment in Berlin.‘ Viele Leute auf der Straße fanden, dass es keine Demokratie mehr gebe wie früher in der DDR. Frauen erzählten mir, man könne wegen der Migration des Abends nicht mehr in die Innenstadt gehen. Ich kann das nicht alles verifizieren. Ich bin nur als Protokollführer hingegangen.

Sie widersprechen aber dennoch vielen deutschen Medienberichten.

Die Berichterstattung scheint mir sehr eingefärbt zu sein. Man sucht geradezu nach Bildern, um diesen Protest zu delegitimieren und alle in eine Nazi-Ecke zu stellen. Das ist eine gewaltige Verharmlosung dieser Proteste. Wären es nämlich tatsächlich nur Neonazis gewesen, könnte man die alle als Geisteskranke abtun und ein paar Polizeibrigaden runterschicken.

Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz zur medialen Berichterstattung?

In Deutschland herrscht ein fürchterlicher Moralismus. Es geht nicht mehr um Fakten, sondern nur mehr darum, wer die Guten und wer die Bösen – sprich: die Nazis – sind. Jeder, der das differenziert sieht oder ein „Nazi-Versteher“ ist, ist ebenfalls ein Nazi. Deshalb genügt es schon zu bezweifeln, dass es Hetzjagden gegeben hat, um ein Nazi zu sein. Sogar auf den Präsident des Verfassungsschutzes wurde eine Hexenjagd gestartet, anstatt dass sich in Berlin jemand entschuldigt und sagt: „Wir haben da ein Video wohl falsch interpretiert.“

Worin sehen Sie den Grund für diesen Moralismus?

Roger Köppel und Stefan Beig

Es gibt dafür eigentlich nur zwei Erklärungen. Erstens: Das politische Establishment in Berlin ist schlicht überfordert. Oder zweitens: Machtegozentrik. Man will Kritik an der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin nicht zulassen. Hier versagen die Medien. Sie berichten nicht, was ist, sondern sie ergreifen a priori Partei.

Ist dieses parteiische Verhalten der Medien ein neues Phänomen oder ist aus Ihrer Sicht das Empfinden dafür heute stärker geworden?

Das war immer so, aber es hat sich verschärft. Wir kommen aus einer rund 25 Jahre anhaltenden Wohlstandsblase. In den 1990er-Jahren, nach dem Ende des Kalten Kriegs, sprach man vom „Ende der Geschichte“, von offenen Grenzen und vom Ende aller Kriege. Dieser naive Utopismus gepaart mit wirtschaftlichem Wachstum führte
zu einer naiven Politik, auch in der Europäischen Union. Utopische Reißbrettideen wie die Euro-Einführung, Schengen, Dublin und der Versuch, aus dem Staatenbund einen Bundesstaat zu machen, wurden ganz einfach durchgestampft. Diese Wohlfühl- und Schönwetterpolitik ist im Gefolge der Finanz- und der Migrationskrise, die aus meiner Sicht übrigens zu 80 Prozent hausgemacht ist, zusammengebrochen. Das produziert Stress bei den Eliten und ihren Medien.

Inwiefern hat die Politik die Flüchtlingskrise verschuldet?

Wenn Sie ihre Kühlschranktür und ihre Haustür öffnen, dann kommt jeder in ihr Haus. Das ist logisch. Wenn sich in Afrika und im Nahen Osten herumspricht, dass die Europäer nicht mehr ihre Grenzen schützen, dass Migranten in Lampedusa gar nicht mehr registriert werden, sodass alle ungestört weiter nach Deutschland oder in die Schweiz ziehen, dann ist es ebenfalls logisch, dass die Leute kommen. Ich mache keinem dieser Migranten auch nur den geringsten Vorwurf. Die Verantwortung liegt bei uns. Wo sind die Staaten, die unsere Rechtsordnung schützen, die dafür sorgen, dass nur jene Asyl erhalten, die es verdienen? Der Wille, das Recht durchzusetzen, fehlt. Man hat sich in eine Gutmenschen-Position hineingeträumt und glaubt darüber erhaben zu sein, die Gesetze umzusetzen. Das merken die Menschen und es ärgert sie, wenn Migranten, von denen manche auch noch Straftaten begehen, hier gratis leben. Dass man Kritiker als Nazis denunziert, zeigt doch nur den Grad der Verzweiflung der Eliten. Aber: Diese Problematik, auch im Hinblick auf die Medien, war schon immer da. Das bricht jetzt im Zuge dieser „Wirklichkeitsschocks“ auf. Für mich findet insgesamt eine heilsame Ernüchterung statt, wenn auch mit tragischen Konsequenzen.

Speziell in Deutschland wächst aber die Polarisierung.

Angela Merkel wollte mit der CDU nach links gehen, um die SPD kaputt zu machen. Dadurch ist im politischen System eine Schieflage nach links entstanden und rechts eine Lücke aufgegangen. Man hatte hat sich schon an diese Wohlfühlblase gewöhnt, in der sich verschiedene Koalitionen mit winzigen inhaltlichen Unterschieden abgewechselt haben. Der Protest auf der Straße und der Aufstieg der AfD lösen in so einem konsensverwöhnten Gebilde einen gewaltigen Stress aus, speziell in Deutschland, und deshalb wird das alles als nationalsozialistisch denunziert. Das erinnert mich an die Kommunisten-Hysterie zur Zeit McCarthys. Die linken politischen Eliten, denen die Felle davonschwimmen, malen einen rechten Popanz an die Wand, der die Mediensorgfalt und auch die Medienvielfalt zerstört, weil alle dasselbe schreiben. Darüber hinaus gehen die demokratischen Gepflogenheiten kaputt. Ich denke aber, das sind Übergangsphänomene. Die Demokratie wird in Deutschland fortbestehen.

Sie denken demnach, wir leben in einer Übergangszeit?

Wir erleben gerade den Zusammenbruch des übertriebenen Internationalismus, der das Evangelium der 1990er-Jahre war. Auf die Vergemeinschaftung des Geldes und das vergemeinschaftete Asylchaos folgte eine berechtigte Misstrauenswelle von unten. Das Volk sagt: ‚Ihr habt euch übernommen – in der Wirtschaft und in der Flüchtlingspolitik – und ihr habt die Risiken nicht im Griff.‘ Es findet daher ein Korrekturprozess statt. Die Politik muss wieder geerdet werden. Und aus Schweizer Sicht würde ich sagen: Die EU ist in ihrem jetzigen Zustand eine intellektuelle Fehlkonstruktion. Sie können nicht eine Währung für so verschiedene Volkswirtschaften wie Griechenland und Deutschland schaffen. Für Griechenland ist der Euro viel zu schwer, für Deutschland viel zu leicht. Massive Transferzahlungen sind die Folge, für die es aber keine Solidarität gibt. Warum soll ein Deutscher, der 60 Stunden in der Woche arbeitet, für einen Griechen, der mit 52 in Pension geht, oder für die Franzosen mit ihrer 35-Stunden-Woche zahlen? Das ist eine völlig weltfremde Vorstellung. Gleiches gilt für die Migrationspolitik: Logischerweise kontrollieren und registrieren die Italiener nicht alle Migranten, weil sie ja wissen, dass sie weiter in den Norden ziehen. Erstmals in der Geschichte ist die EU für Deutschland ein Problemerzeuger geworden. Die Deutschen wollen wieder zurück zu mehr Nationalstaat und die AfD ist das Sprachrohr dieser Bewegung. Leider sehe ich im Moment – etwa im Umgang mit dem Brexit – noch keine Einsicht bei den Regierenden, sondern eher Verhärtung und die Aggression des verwundeten Tiers, das umso heftiger um sich schlägt.

Es gibt zurzeit ein starkes Ost-West-Gefälle.

Westdeutsche Journalisten sagten mir, die Menschen im Osten seien ja mental noch gar nicht ganz in der Demokratie angekommen. Einer meinte, die sehnen sich nach einem starken Führer. Ich halte das für eine Geringschätzung und für überheblich. Nach meinem Eindruck sind gerade in den osteuropäischen Ländern die Sensibilität für Demokratie und Freiheit stärker ausgeprägt, weil man dort die Diktatur erlebt hat. Die Obrigkeitsfraktion sitzt im Westen.

Das vollständige Interview mit Roger Köppel finden Sie in Frank&Frei – Magazin für Politik, Wirtschaft und Lebensstil, Ausgabe 07/2018

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